Dieses Erlebnis wird Fritz Quien nie wieder vergessen. Abu Dhabi, März 2019: Es läuft die Eröffnungsfeier der Special Olympics World Games 2019, der Olympischen Spiele für Menschen mit Handicap. Das deutsche Team wird aufgerufen und macht sich auf den Weg in das proppenvolle Zayed Sports City Stadium. Inmitten der deutschen Delegation befindet sich Fritz Quien. Der Trainer des VfBfairplay Projekts für Inklusive Fußball-Förderung (PFIFF) ist in diesen Tagen als Gast-Trainer der BSG Neckarsulm im Einsatz, die am Fußballturnier teilnimmt. Und nun kommt es zu einem Erlebnis, das ihn zutiefst berührt. „Es war der Wahnsinn“, schwärmt er, „als wir ins Stadion eingelaufen sind, haben uns 40.000 Zuschauer zugejubelt. Das war ein absoluter Gänsehautmoment.“ Und der sollte nicht der einzige bleiben. Denn beim sportlichen Großereignis in Abu Dhabi, an dem 7000 Athleten aus 192 Ländern teilnahmen, sammelte der 58-Jährige eine eindrückliche Erfahrung nach der anderen. Sei es, als er sah wie selbst israelische Sportler in dem arabischen Land mit Applaus empfangen wurden. Sei es, als er mitbekam wie unbefangen die Sportler untereinander umgingen und dass bei ihnen Religion und Hautfarbe keine Rolle spielen. Oder sei es, als er tagtäglich zu spüren bekam, wie willkommen er und die Sportler sind und wie sehr sie während der World Games im Mittelpunkt stehen. Und mittendrin: seine Athleten, die übers ganze Gesicht vor Freude strahlen. „Bei den World Games hast du gesehen, welch großen Stellenwert Menschen mit mentaler Beeinträchtigung in Abu Dhabi und auch in vielen anderen Nationen genießen“, sagt er. Erfahrungen über Erfahrungen, die für ihn der Lohn für all sein Engagement in den vergangenen Jahren sind und ihn zugleich anspornen, seinen noch weiten Weg im inklusiven Fußball weiterzuverfolgen.
Dabei hätte es diesen Ansporn gar nicht mehr gebraucht, genauso wenig wie die schillernde Kulisse der Special Olympics World Games. Denn Fritz Quien hätte sich auch ohne diese Erlebnisse weiter energisch für den Behindertensport eingesetzt. Er hätte auch so wie seit 2017, als das PFIFF gegründet wurde, weiterhin jeden Dienstag den Kunstrasenplatz hinter der Mercedes-Benz Arena betreten und eine Trainingseinheit für Menschen mit mentaler Beeinträchtigung geleitet. „Wenn ich sehe, mit welcher Begeisterung diese Kinder, Jugendliche und Erwachsenen immer zum Training kommen und mit welcher Freude sie dann mitmachen, weiß ich, dass das PFIFF Wirkung zeigt und dass ich hier richtig aufgehoben bin“, sagt er, „das PFIFF ist bei mir inzwischen zu einer Herzenssache geworden.“
Und es hat das Leben des 58-Jährigen verändert. Ihn als Person, aber auch seinen Werdegang. Dabei hat der Fußball schon immer eine zentrale Rolle in der Vita von Fritz Quien gespielt. Schon als kleiner Bub ging er in seinem Heimatverein SV Erlenmoos, zwischen Biberach an der Riß und Memmingen gelegen, auf Torjagd. Als Aktiver spielte er unter anderem für den FV Biberach in der Verbands- und Oberliga. Parallel dazu absolvierte er sein Lehramtsstudium. Ein paar Jahre später lief er bei verschiedenen Bezirks- und Kreisligisten im Alb-Donaukreis auf, einmal trainierte er auch den zu dieser Zeit in der Landesliga spielenden FV Biberach. 1995 kam er zum Württembergischen Fußballverband, er erwarb die A-Lizenz und wurde 2008 in den Trainerlehrstab aufgenommen. Fortan betreute Fritz Quien Auswahlmannschaften, war DFB-Stützpunkttrainer und beim wfv für die Aus- und Fortbildungen von Trainer zuständig. In letzterer Funktion kam er 2012 mit Trainern in Kontakt, die in Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten und sich beim wfv fußballspezifisch ausbilden lassen wollten. Und das sollte seinen Alltag in eine neue Richtung lenken. „Ich fand es spannend, diesen Trainerlehrgang abzuhalten und habe mich danach dafür interessiert, mit Menschen mit Handicap zu arbeiten“, sagt er.
Wer Fritz Quien kennt, den Anpacker, den Schaffer, der kann sich nur allzu gut vorstellen: Es sollte nicht lange nur beim Interesse bleiben. Schon bald rief er die Landesauswahl für Menschen mit Beeinträchtigung ins Leben und engagierte sich im Projekt „BISON“, das ausformuliert „Baden-Württemberg inkludiert Sportler ohne Norm“ bedeutet. Doch schon ein paar Jahre später stand das inklusive Fußballprojekt vor dem Aus, nachdem das Land die Mittel dafür gestrichen hatte. Vor allem auch dank des Einsatzes von Fritz Quien und seinem Mitstreiter Dr. Martin Sowa, die nicht alles einfach enden lassen wollte, ging es mit der Landesauswahl trotzdem weiter. Seit 2014 ist der VfB im Rahmen seines gesellschaftlichen Engagements VfBfairplay der exklusive Partner der Landesauswahl für Menschen mit Beeinträchtigung. Seither wurde die Kooperation ausgebaut und das PFIFF gestartet.
Rund 600 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Handicap nehmen aktuell an den sieben PFIFF-Standorten regelmäßig an einem Training teil. Auf diese Zahl ist er schon ein wenig stolz. Und sie ist für Fritz Quien auch ein Antrieb. Denn sie zeigt: Das Interesse am Fußball ist bei vielen Menschen mit mentaler Beeinträchtigung da, einige von ihnen sind sogar so gut, dass sie auch im „normalen“ Ligabetrieb mitspielen könnten – doch dazu haben nur die wenigsten die Möglichkeit. „Ich musste feststellen, dass Menschen mit Beeinträchtigung kaum eine Möglichkeit haben, am Vereinsleben teilzunehmen“, sagt Fritz Quien, „das Mitgefühl mit Menschen mit geistiger Behinderung ist bei uns in Deutschland sehr gering. Das Problem ist, dass wir ihnen im Alltag kaum begegnen, weil sie ihren Alltag in speziellen Einrichtungen verbringen. Das Bundesteilhabegesetz setzen wir kaum um, da sind uns andere Nationen weit voraus.“ Das erlebte Fritz Quien im positiven Sinne ganz deutlich bei den Special Olympics World Games im März. Und das erfährt er im negativen Sinne immer wieder, wenn er versucht, Spieler seiner Landesauswahl, die von der Leistung her in der Kreisliga A oder B mitspielen könnten, an Vereine zu vermitteln. Aktuell kicken lediglich sechs Spieler aus der Landesauswahl in einer normalen, am Spielbetrieb teilnehmenden Fußballmannschaft. Eine Quote, die Fritz Quien ärgert. „Die Vereine klagen oft über Spielermangel, vor allem in ihren Reservemannschaften. Wenn ich ihnen dann aber Spieler vermitteln möchte, reagieren sie skeptisch. Da müssen sich die Vereine mehr öffnen. Die, die es gemacht haben, sind damit gut gefahren“, sagt er, „wenn mir ein Trainer der Kreisliga-B-Reserve erklärt, er könne keine Menschen mit mentaler Behinderung einsetzen, weil er Meister werden müsse, und dann am Wochenende die Partie wegen Spielermangels abgesagt wird, dann ist das schon sehr frustrierend.“ Und selbst im Kinder- und Jugendfußball gebe es oft Bedenken gegen die Inklusion eines Fußballers mit Beeinträchtigung, weil „überehrgeizige Eltern fürchten, dass das Talent und die fußballerische Entwicklung ihres Kindes darunter leiden, wenn es mit einem Kind mit mentaler Beeinträchtigung zusammenspielt“. Hier setzt das PFIFF an und versucht, die Inklusion in Vereinen voranzutreiben.
Doch so frustrierend solche Erfahrungen auch sind, es gibt auch positive Beispiele, die ihm Mut für die Zukunft machen und eine kleine Bestätigung seines Kampfes gegen Windmühlen sind. So gibt es bei der TSG Wilhelmsdorf, einem Sportverein in der Nähe von Ravensburg, seit ein paar Jahren eine sogenannte „Unified-Fußballmannschaft“, in der Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam trainieren und zu Freundschaftsspielen antreten. Inzwischen ist dieses Pilotprojekt soweit fortgeschritten, dass die Mannschaft wohl demnächst am normalen Spielbetrieb teilnehmen wird. „Das ist ein schönes Beispiel für Inklusion, das zum Vorbild dient“, sagt Fritz Quien und fügt hinzu, dass auch der VfB es anpeilt, eine „Unified-Mannschaft“ aufzubauen.
Die kommenden Jahre sind dabei aus Sicht von Fritz Quien eine wegweisende Zeit für den Inklusionssport in Deutschland. Und eine Zeit, mit der er große Hoffnungen verbindet. Denn 2023 finden die Special Olympics World Games in Berlin statt. Dann werden tausende Sportler mit Beeinträchtigung zu den Wettkämpfen in die Hauptstadt kommen, begleitet von einem riesigen Medientross aus aller Welt. Und so hofft der PFIFF-Trainer, dass das Thema inklusiver Sport in den kommenden Jahren immer mehr in das öffentliche Bewusstsein rückt und spätestens die Tage von Berlin 2023 etwas nachhaltig verändern in der Förderung von sportbegeisterten Menschen mit mentaler Beeinträchtigung – und vor allem auch in dem dafür notwendigen medialen Interesse hierzulande. Denn anders als in vielen Nationen hat man in Deutschland von den Special Olympics World Games in Abu Dhabi kaum etwas mitbekommen – und dass Fritz Quien mit seiner Mannschaft dort die Bronzemedaille gewonnen hat, auch nicht.