Torsten Lieberknecht hat das Problem schon länger erkannt. "Der schwierige Spagat zwischen Tradition und Zukunft bei Eintracht Braunschweig", unter diesem Titel schrieb der heutige Coach der Niedersachsen seine Trainerdiplomarbeit. Der Fußballlehrer baut seit 2008 an der modernen Version des Traditionsklubs, der sich durch sein Auftreten in der höchsten deutschen Spielklasse nun auch wieder in die Köpfe der jüngeren Fußballinteressierten gespielt hat.
Auch wenn die Niedersachsen am Tabellenende stehen, so verbindet der Fußballfan landauf landab mittlerweile nicht mehr nur Jägermeister oder Paul Breitner mit der Eintracht. Der Schnapsproduzent war 1973 der erste Trikotsponsor im deutschen Fußball, der ehemalige Nationalspieler wechselte vier Jahre später als Weltstar von Real Madrid nach Braunschweig. Zwei Nachrichten, auf die sich die Gespräche über den dortigen Fußballklub außerhalb Niedersachsens meist reduzierten – zumindest bis 2011, als die Eintracht in die 2. Bundesliga aufstieg. Allerspätestens zwei Jahre danach dürfte dann aber fast allen Deutschen der Braunschweiger Fußballklub ein Begriff gewesen sein. Denn nach fast drei Jahrzehnten bejubelten Torsten Lieberknecht und seine Mannschaft sowie tausende Anhänger die Rückkehr in die Bundesliga.
Aufstiegsjubel der Eintracht in der Saison 12/13
Seit 2008 geht es stetig bergauf
Die Erfolgsgeschichte des Trainers und seiner Blau-Gelben begann allerdings bereits im Mai 2008. Drei Spieltage vor dem Schluss der Regionalligasaison übernahm der Übungsleiter die Geschicke des Klubs. Damals stand die Eintracht am Rande der Versenkung – finanziell wie sportlich. Letztlich wurde die Insolvenz abgewendet, und Braunschweig schaffte den Sprung in die neugegründete 3. Liga, und zwar auf denkbar spannende Weise. Am letzten Spieltag musste das Team von Torsten Lieberknecht gegen Borussia Dortmund II gewinnen und zeitgleich der bereits in die Regionalliga abgestiegene VfB Lübeck beim Braunschweiger Konkurrenten Rot-Weiss Essen nicht verlieren, die mit der Eintracht um Rang zehn stritten, der als letzter für die Teilnahme an der 3. Liga berechtigte.
Am Scheideweg zwischen Profi- und Amateurfußball standen die Niedersachsen demnach, und die Fans hatten bereits einen Sterbekranz organisiert. Die Blau-Gelben führten kurz vor dem Abpfiff mit 2:0, aber es dauerte bis zur 88. Spielminute, ehe aus Essen die erlösende Kunde nach Braunschweig schwappte, denn Lübeck hatte dort sogar die Führung erzielt. Diese sollte bis zum Spielschluss halten und die Eintracht dank ihres Sieges erstmals in dieser Saison auf Platz zehn stehen. Torsten Lieberknecht hatte den Klub also mit einem Unentschieden und zwei Siegen in seiner bis dahin kurzen Amtszeit in die 3. Liga geführt.
Danach ging es stetig bergauf, und der Deutsche Meister aus dem Jahr 1967 hat sich vollends vom Staub der erfolgreichen Vergangenheit befreit. "Wir haben es geschafft, den Leuten zu vermitteln, dass es für uns kein Weg mehr sein kann, nur von früher zu erzählen. Dieser Fehler wurde hier jahrelang gemacht", sagte der Manager Marc Arnold schon im April 2013 der Zeitung Die Welt, noch bevor der Aufstieg in die Bundesliga feststand.
Im deutschen Fußballoberhaus zeigen vor allem die Partien 2014, dass der Klub diese Entwicklung auch in der aktuellen Saison fortsetzt. "Mittlerweile sind wir in der Liga angekommen", sagt der Flügelspieler Jan Hochscheidt. "Unser Rückstand auf die Nicht-Abstiegsplätze beträgt nur drei Punkte. Wir werden natürlich alles daran setzen, auch in der kommenden Saison in der Bundesliga zu spielen."
Die Löwen werden bis zum Ende kämpfen. So werden die Braunschweiger Kicker genannt, und in der Bereitschaft, im Ehrgeiz sieht auch deren Trainer ein wichtiges Kriterium für einen Eintracht-Spieler, "die mehr als ausschließlich Talent haben", sondern auch "eine hohe Leidenschaft mitbringen. Das ist in Braunschweig extrem wichtig, weil die Menschen spüren, ob jemand da ist, der mit dem Verein lebt oder nur seinem Job nachgeht."
Ackert in der Defensive: Ermin Bicakcic
Kampfstarke Löwen
Der Cheftrainer lebt die Eintracht, so viel ist sicher. Die Fans ebenso, nicht umsonst strömten auch zu Drittligazeiten mehr als zehntausend Zuschauer ins Braunschweiger Stadion. Und die Mannschaft: auch dieser "eingeschworene Haufen", wie der ehemalige VfB Akteur Ermin Bicakcic sagt, hat den Kampf gegen den Abstieg angenommen. Das zeigt der 4:2-Erfolg gegen den Hamburger SV vor drei Wochen, das 1:1 gegen den Europa-League-Aspiranten Borussia Mönchengladbach am vergangenen Samstag und auch das 1:2 beim 1. FC Nürnberg dazwischen, wo die Eintracht zwei Elfmeter vergab und mit 22:6 Torschüssen überlegen war.
Doch hier wird auch schon die Schwäche der Niedersachsen deutlich. Sie haben zwar in der Rückrunde die viertmeisten Torschüsse abgegeben, weisen aber die schwächste Trefferquote auf.
Das liegt auch daran, dass sich die Mannschaft von Torsten Lieberknecht nur wenige Großchancen erspielt, wobei dies 2014 auch schon besser wurde. Außerdem ist die Eintracht auswärtsschwach, zwei Unentschieden und einen Sieg erarbeitete sich das Team bisher. In der Fremde schießt Braunschweig auch nicht so häufig aufs Tor.
Überall treten die Blau-Gelben allerdings engagiert, laufstark und kämpferisch auf. Ihre Defizite im spielerischen Bereich machen sie meist mit ihrem Einsatz wett. Trotzdem sind sie über das Zentrum häufig anfällig, trotzdem bereiten ihnen Standards des Gegners Probleme, und trotzdem steht unter dem Strich derzeit der letzte Tabellenplatz. Aber: in der bisherigen Rückrundenabrechnung rangiert Braunschweig derzeit an 14. Stelle. Nach der Winterpause geht der Plan, aus einer kompakten Ordnung heraus die Passwege zuzumachen statt nach vorne zu attackieren sowie nach Ballgewinn mit Tempo anzugreifen, besser auf.
Karim Bellarabi, Jan Hochscheidt, Dominik Kumbela oder Havard Nielsen sind die Protagonisten der Offensivreihe, in der Defensivarbeit ackern meist Ermin Bicakcic, Deniz Dogan, Norman Theuerkauf, Mohammed Abdellaoues Cousin Omar Elabdellaoui oder Mirko Boland, wobei Letzterer in der Mercedes-Benz Arena aufgrund einer Gelbsperre sein erstes Saisonspiel verpasst. Es könnten noch weitere Protagonisten aufgezählt werden, denn das Team von Eintracht Braunschweig lebt von seiner Geschlossenheit, seiner Laufstärke, seiner Aggressivität, seinem Löwenherz – Attribute, die aber auch der VfB kann.
Beim souveränen 4:0-Hinspielerfolg hat die Mannschaft von Thomas Schneider darüber hinaus seine spielerischen Qualitäten unter Beweis gestellt. An diesem Samstag sind aber drei Punkte die Hauptsache – egal, ob diese dann auf einem modernen Fußball fußen oder nicht.