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2013, 27. September 2013
Bundesliga, 27.09.2013

Der blaugelbe Rheinländer

Feuerwehrmann, Familienvater und Kultfigur: Thilo Götz lebt schon lange in Köln und ist dennoch ein Urgestein in der Fanszene von Torsten Lieberknechts Eintracht Braunschweig.

Thilo Götz hat eine halbe Stunde lang geweint. Das war und ist ihm keineswegs peinlich, ihm, dem Vorsänger in der Südkurve des Stadions von Eintracht Braunschweig. 42 Jahre ist der Rheinländer alt, seit 1983 Anhänger der Blaugelben, seit 1987 in der Fangemeinde aktiv. Thilo Götz ist Kult bei den Niedersachsen. Er wohnt in Köln, fährt dennoch seit Jahrzehnten der Eintracht in der Republik hinterher und somit natürlich auch stets nach Braunschweig. Er hat viel erlebt, aber dieser 31. Mai 2008, das war schon einzigartig. Der Familienvater hat die Bilder von damals noch vor Augen: Seine Eintracht führt am letzten Spieltag der Regionalliga Nord mit 2:0 gegen Borussia Dortmund II, ist aber abhängig vom Ergebnis aus Essen, wo Rot-Weiss den VfB Lübeck empfängt. Nur wenn Essen nicht gewinnt, schafft Braunschweig den Sprung auf Platz zehn und damit in die 3. Liga, die im Folgejahr erstmals an den Start gehen sollte. Großes Bangen ist angesagt, schließlich steht sein Klub zwischen dem Profifußball und der Versenkung im Amateurbereich. Kurz vor dem Ende wird Thilo Götz auf die Tartanbahn gewunken, erhält die Info, dass die bereits "abgestiegenen" Lübecker das 1:0 erzielt haben. In der 88. Minute! So sollte es auch nach dem Abpfiff stehen und Braunschweig damit erstmals in dieser Spielzeit auf dem rettenden Platz zehn rangieren.

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Eintracht-Vorsänger und -Kultfigur: Thilo Götz

"Ich bin rumgesprungen wie ein Berserker", sagt Thilo Götz, "wir wären tot gewesen." Schließlich lavierte der Klub auch noch am Rande der Insolvenz. "Ich hatte mit der Saison schon abgeschlossen. Wer hätte denn denken können, dass ausgerechnet Lübeck in Essen gewinnt." Er tat dies jedenfalls nicht, war auf das Schlimmste eingestellt. "Ich hatte extra einen Sterbekranz bestellt, der lag im Fanraum. Wir hätten ihn auf den Platz getragen." Nun liegt das Geflecht am Kriegerdenkmal hinter der Gegengerade und Eintracht Braunschweig spielt in der Bundesliga. Dort empfängt das Team von Torsten Lieberknecht am Sonntag von 17.30 Uhr an den VfB. Der Cheftrainer der Niedersachsen war 2008 der Heilsbringer, er übernahm seinen Posten drei Spieltage vor dem Saisonende und sorgte mit seiner Mannschaft schließlich für die Tränen bei Thilo Götz. Dieser hatte sich fünf Jahre später für das erste Bundesligaspiel im Eintracht-Stadion nach 28 Jahren Abstinenz etwas Besonders vorgenommen. Kurz vor dem Anpfiff schritt er in den Mittelkreis – und betete. "Ältere Fans werden das noch kennen", sagt Thilo Götz, "früher ist immer mal jemand über den Zaun gesprungen, aufs Feld gerannt und hat gebetet, bis ihn die Ordner abgeführt haben. Das haben sie sicherlich auch vom Stuttgarter A-Block aus gemacht."

Mehr als Jägermeister

Sein Auftritt ist abgesprochen, er wird nicht abgeführt und vollzieht den Brauch ohnehin nur bei ein paar ausgewählten Spielen. "Wenn das immer passiert, dann ist es irgendwann ausgelutscht." Er selbst mache das von seinem Bauchgefühl abhängig, daher kann er keine Auskunft geben, ob die VfB Fans am Sonntag Zeugen des Gebets werden. "Das ist kein Marketing-Gag, sondern kommt von Herzen", sagt der 42-Jährige und ergänzt: "Ich bin auch froh, dass der Verein das verstanden hat und mich nicht als Maskottchen sieht." Nach dem Gebet beim Auftaktspiel gab er den Klatschtakt vor und die Braunschweiger Fans unter den 23.000 Zuschauern stimmten ein. "Ich bin zwar schon seit 1997 Vorsänger und die meisten kennen mich, dennoch ging mir natürlich die Pumpe", sagt der Feuerwehrmann und beschreibt die Sensation der Bundesligarückkehr recht anschaulich: "Meine Kumpels und ich haben uns immer gesagt, dass wir schon dement sein werden, bis Braunschweig aufsteigt und unsere Pfleger davon berichten müssen." Nun kam es also anders und das freut Thilo Götz natürlich.

Es war Zufall, dass er zur Eintracht kam. Sein Onkel nahm den Rheinländer vor 30 Jahren einfach mal mit. Eintracht Braunschweig, das war ein Gründungsmitglied der Bundesliga, bekannt durch die "Jägermeister"-Werbung auf dem Dress, dem ersten Trikotsponsoring in Deutschland überhaupt, und zudem Deutscher Meister 1967. Ein Kultklub, bei dem auch Paul Breitner direkt nach seiner Real-Madrid-Zeit die Kickschuhe schnürte und bei dem Thilo Götz schließlich hängen blieb – und vieles mitmachte. Den Abstieg in die zweite Bundesliga 1985, die Ankunft in der Oberliga 1993, eben jenen Goldtag 2008 und nun auch die Rückkehr ins Fußballoberhaus nach fast drei Jahrzehnten. "Die Fangruppe gab mir die Kraft, die ich zu Hause nicht bekam", hat er einmal in einem Interview geäußert. Dieses Zitat sei nicht nur so dahin gesagt gewesen, erklärt der Feuerwehrmann. "Die Eintracht-Fans sind froh und stolz, dort wird man aufgefangen. Außerdem wissen wir, was es bedeutet unten zu liegen. Wenn man neun Jahre lang für Drittligaspiele nach Braunschweig fährt, wird man abgeklärt, kann auch besser mit privaten oder beruflichen Niederlagen umgehen." Der blaugelbe Kult fuße zwar auch darauf, dass "die Leute kommen und fragen, ob wir eigentlich noch Jägermeister auf den Trikots haben", aber vielmehr imponiere ihm die Tatsache des familiären Umgangs. "Wir sind nicht so eine große Masse. Es macht viel aus, dass man denjenigen kennt, dem man die Hand schüttelt."

Ein Musical über die Eintracht

Das Musical "Unser Eintracht" der Braunschweiger Jazz-Rap-Band "Jazzkantine" wurde einmal mit den folgenden Worten angekündigt: "Man kann keinem Nichtbraunschweiger erklären, was es bedeutet, blaugelb zu sein. Wir sind Weltmeister im Verhältnis Anzahl der Fans zu verlorenen Punkten." Das war 2008. Fünf Jahre später sagt Thilo Götz: "Der Eintracht-Fan weiß genau, dass er öfter verliert. Die Braunschweiger können zwar auch kritisch sein, aber derzeit halten sie einfach den Mund, feiern die Mannschaft in Maßen, sind stolz auf den Bundesligafußball und genießen." Für Pfiffe müsse schon so einiges geschehen. Die Anhänger wüssten, dass die Bundesliga eine Sensation darstellt, die Mannschaft gerade erst aufgestiegen ist, und dass "für uns eigentlich nur zwei Partien zählen. Die gegen die Landeshauptstadt." Das Hin- und Rückspiel gegen Hannover 96.

Nun kommt aber erst einmal der VfB Stuttgart und Thilo Götz ist siegesgewiss: "Der Knoten wird platzen, weil die Mannschaft weiß, dass sie kicken kann. Uns fehlte bislang das eine Quäntchen Glück." Außerdem würde der "zwölfte, 13. und 14. Mann" hinter dem Team stehen. Doch das wird auch beim VfB so sein, dessen Fans in Braunschweig abermals sicher für eine tolle Unterstützung sorgen werden. Dort erwartet die weiß-roten Anhänger laut dem 42-Jährigen "ein Stadion, das nicht aus dem Katalog ist, Fans, die sich nicht alles vom Vorsänger diktieren lassen, Zuschauer, die noch mit Kutten, Bier und Zigo herumlaufen" – und eben Thilo Götz, der dies alles mit "etwas altbelassen" umschreibt und am Sonntag aller Voraussicht nach nicht weinen wird.

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