Die weitreichende Veränderung begann für Julian am Rande der deutschen Fußballmeisterschaft für Menschen mit mentaler Beeinträchtigung im Jahr 2014 in Saarbrücken. Der Mittelfeldspieler der Baden-Württemberg-Auswahl, die 2013 gerade erst neu gegründet wurde, ging auf den damaligen Leiter des Inklusionssportprojektes Bison (Baden-Württemberg inkludiert Sportler ohne Norm) Dr. Martin Sowa zu und fragte schüchtern: „Martin kannst du mir helfen, dass ich auch mal in einem Fußballverein spielen kann?“ Eine Woche später sitzen Julian, seine Eltern und Martin Sowa im Wohnzimmer der Familie Straubinger in Salmendingen zusammen und beraten darüber, in welchem Verein für Julian eine Teilnahmemöglichkeit bestehen könnte. Kurze Zeit später wird der Abteilungsleiter des FC Sonnenbühl angerufen. Nur zwei Wochen später ist Julian beim ersten Training mit dabei und seitdem Mitglied des Vereins.
Im Oktober 2020 stehen sich auf dem Sportgelände der TSG Reutlingen die Landesauswahl der Fußballer mit mentaler Beeinträchtigung aus Baden-Württemberg und das inklusive Fußballteam der TSG Reutlingen gegenüber. Im Mittelfeld gerät Julian Straubinger kurz ins Straucheln. Der Gegner zieht an ihm vorbei. Julian rappelt sich auf, stürmt ihm hinterher. Grätscht souverän den Ball ab. Mit dem Spielgerät am Fuß stürmt er selbstbewusst nach vorne, passt in den Strafraum. Der Mittelstürmer nimmt die Vorlage volley und der Anschlusstreffer ist erzielt.
Julian Straubinger, der als Landschaftsgärtner arbeitet, trainiert mittlerweile regelmäßig im Verein und der Landesauswahl des PFIFF, dem Projekt für inklusive Fußballförderung, dass der VfB Stuttgart gemeinsam mit dem Württembergischen Fußballverband gestartet hat. Das VfBfairplay PFIFF ist 2017 insbesondere deshalb an den Start gegangen, damit möglichst vielen Menschen mit Behinderung in Württemberg eine Möglichkeit gegeben wird, regelmäßig ortsnah Fußball spielen zu können. Bis heute ist das in über 700 Fällen gelungen und zwar durch alle Altersstufen und unabhängig vom Schweregrad der Behinderung. An den Fußballstützpunkten in Stuttgart, Heilbronn, Ellwangen, Reutlingen, Ravensburg, Ulm und Opfingen bei Freiburg im Land gibt es derzeit diese Trainingsmöglichkeiten. Darüber hinaus nehmen PFIFF-Teams inzwischen bei internationalen Turnieren teil, Lehrer- und Trainerfortbildungen für diese spezielle Zielgruppe haben ebenso eine wichtige Bedeutung bekommen.
Die Geschichte von Julian ist ein Beispiel, wie Menschen mit Beeinträchtigungen durch das PFIFF zu einem großen Mehr an Lebensfreude und Lebensqualität gelangen können. „Sport ist mein Leben“, sagt Julian. In den vergangenen acht Jahren ist insbesondere der Fußball für Julian zu einem immer wichtigeren Lebensinhalt geworden, der ihm auch besondere Erfolgserlebnisse bescherte. Im Jahr 2017 erreicht Julian mit der Landesauswahl bei den Deutschen Meisterschaften in Rostock den vierten Platz.
2019 wird ihm dann eine besondere Ehre zu Teil. Julian qualifiziert sich bei den nationalen Spielen von Special Olympics mit der BSG Neckarsulm für die World Games in Abu Dhabi. Es wird seine erste lange Reise, ein großes Abenteuer für das gesamte Team. Es wird ein erfolgreiches Abenteuer. Denn seine Mannschaft gewinnt sensationell im Spiel um den dritten Platz die Bronzemedaille.
Nach der Rückkehr in die Heimat ist Julian beim Empfang im Stuttgarter Schloss mit Innenminister Thomas Strobl genauso mit dabei, wie einige Jahre zuvor beim Neujahrsempfang von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Julian ist aus dem Albdorf heraus auf eine viel größere Bühne getreten. Er darf nun Interviews für die Zeitung geben, ist bei Radioreportagen ein interessanter und gern gehörter Gesprächspartner.
Sportlich stehen für den 27-Jährigen in den kommenden Wochen und Monaten weitere Highlights an. Die wegen der Corona-Pandemie ausgefallene Deutsche Meisterschaft wird im Jahr 2022 in Reutlingen neu aufgelegt. Fritz Quien, Trainer des PFIFF und der Landesauswahl wird seinen Schützling wieder fest einplanen: „Julian ist ein hoch motivierter Junge und ein tolles Beispiel dafür, wie man sich trotz eines Handicaps Ziele setzen und diese erreichen kann.“
Aber nicht nur der Fußball steht im Fokus. Denn Julian hat sein Talent auch in anderen Sportarten schon unter Beweis gestellt. So gut, dass er im Januar 2022 bei den Special Olympics Weltwinterspielen im russischen Kasan die Farben Deutschlands im Skilanglauf vertreten wird. Die Qualifikation hatte er bei den Deutschen Meisterschaften in Garmisch-Partenkirchen erreicht.
Dr. Martin Sowa, der ebenso seit Beginn zum PFIFF-Team gehört und Julian kontinuierlich begleitet, sagt stolz: „Das PFIFF und Julian ist ein hervorragendes Beispiel für eine Inklusion, die weit über das Fußballspiel hinausgeht. Inklusion in den Ortsverein, Reisen durch ganz Deutschland, Besuch von anderen Ländern und Kontinenten, Auftritte auf öffentlichen Bühnen und in den Medien. Dies alles zusammen führt zu einem Zugewinn an Lebensfreude, Lebensqualität und einer enormen Erweiterung des eigenen Horizonts.“
Es werden nicht alle Menschen mit Handicap denselben Weg wie Julian gehen können. Doch auch für Julian steht immer noch der Spaß und die Freude am Fußball im Vordergrund, die ihm und allen teilnehmenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bei den regelmäßigen PFIFF-Trainingseinheiten an den Fußball-Stützpunkten anzusehen ist.